Mittwoch, 29. August 2018
Technik
Früher (TM) hatte ich ja angekündigt, noch etwas über "das Wesen" der Blindleistung zu schreiben.

Wie in dem früheren Blogbeitrag über den Sinn bzw. Unsinn der Bezeichnung induktive/kapazitive Blindleistung schon dargestellt, ist die Blindleistung rein formal das, was von der Wirkleistung auf die Scheinleistung fehlt, wobei Wirk- und Blindleistung eben geometrisch und nicht arithmetisch addiert werden.
Die Scheinleistung als Produkt der Effektivwerte von Spannung und Strom ist ein Maß für die Beanspruchung des Systems. Diese Beanspruchung kann sich in spannungsabhängigen Verlusten (in der Isolation) oder stromabhängige Verluste (in den Leitungen) auswirken. Immer dann, wenn die Scheinleistung größer ist als die Wirkleistung, ist Beanspruchung des Systems höher, als sie sein müsste, wenn genau die Wirkleistung bereitgestellt wird. Der Leistungsfaktor λ (nicht zu verwechseln mit dem Wirkungsgrad) ist dann kleiner als 1. Deswegen wird im elektrischen Energiesystem ein Leistungsfaktor möglichst nahe bei 1 angestrebt, aber normalerweise nicht erreicht, weil eben auch Blindleistung auftritt.

Ein häufiges auftretendes Missverständnis ist, dass der Leistungsfaktor immer und direkt über λ=cosφ in einen Winkel φ umgerechnet werden kann, der die Phasenverschiebung zwischen Strom und Spannung bezeichnet. Erstens muss man sich dann immer noch Gedanken über das Vorzeichen des Winkels machen, und zweitens geht das nur dann, wenn die auftretende Blindleistung, die für λ<1 verantwortlich ist, ausschließlich Verschiebungsblindleistung ist. Tatsächlich gibt es aber, oje oje, auch noch andere Arten von Blindleistung, weil es andere Gründe für Leistungsfaktoren <1 geben kann.

Ich merke schon, die Spannung steigt, aber bleiben wir erst mal bei der Verschiebungsblindleistung. Das Vorzeichen für den Winkel ist schnell bestimmt, wenn man sich den Grund für den Phasenunterschied klarmacht. Ich merke mir das so: An eine Induktivität muss man zunächst eine Spannung anlegen, damit sich nach u=L⋅di/dt ein Stromfluss aufbaut (also eilt der Strom im Verbraucherzählpfeilsystem der Spannung nach), während in eine Kapazität zunächst Strom fließen muss, damit sich eine Spannung aufbaut (deswegen eilt der Strom im Verbraucherzählpfeilsystem der Spannung vor). So, und jetzt kommt es: Einen Winkel zwischen Strom und Spannung anzugeben ist nur dann sinnvoll, wenn Strom und Spannung sinusförmige Zeitfunktionen mit der gleichen Frequenz sind. Aber was ist, wenn Strom und Spannung nicht beide sinusförmig sind und die gleiche Frequenz haben, und deswegen die Angabe einer Phasenverschiebung nicht ausreicht? Dann, und danke für das Warten, treten neben Verschiebungsblindleistung eben noch andere Komponenten der Blindleistung auf.

Fangen wir mit der Verzerrungsblindleistung an. Ein weiteres häufiges Missverständnis ist, dass Verschiebungsblindleistung nur dann auftritt, wenn Induktivitäten und/oder Kapazitäten mit im Spiel sind, die für die oben genannte Phasenverschiebung sorgen. Die Phasenverschiebung kann aber auch andere Gründe haben: Sie tritt auch auf, wenn z.B. eine Phasenanschnittsteuerung den Stromfluss durch eine sonst rein resistive Last nur für einen bestimmten Abschnitt einer Sinushalbwelle zulässt und damit die (Wirk-)Leistung reduziert (man denke an gedimmte Glühbirnen - und spätestens dann, wenn sich niemand mehr daran erinnert, dass es mal Glühbirnen gab, muss ich diesen Blogbeitrag überarbeiten). Dann ist, auch wenn die angelegte Spannung sinusförmig ist, der Stromfluss nicht mehr sinusförmig, sondern bleibt nach dem Nulldurchgang zunächst Null und springt dann zum Zündzeitpunkt (sofern keine Induktivitäten im Stromkreis die Stromanstiegsgeschwindigkeit begrenzen) auf die Sinusform. Der Stromfluss ist dann zwar immer noch periodisch, aber nicht mehr periodisch sinusförmig. Nun kann man (Achtung, Mathe!) unter bestimmten Voraussetzungen, die in der Energietechnik üblicherweise gelten, periodische nichtsinusförmige Zeitfunktionen als eine unendliche Summe von sinusförmigen Zeitfunktionen darstellen, deren Frequenzen genau ganzzahlige Vielfache des Kehrwertes der Periodendauer der nichtsinusförmigen Zeitfunktion sind. Die Ordnungszahl 0 gilt für den Gleichanteil, die Ordnungszahl 1 für die Grundschwingung und die Ordnungszahlen ab 2 für die weitern Oberschwingungen (auch manchmal Oberwellen genannt, ein Begriff, den mein Doktorvater aus n guten Gründen nicht mochte und mag und den ich deswegen aus n+1 guten Gründen sonst nicht verwende).

Zeit für einen Zeilenumbruch. Wo war ich? Ach ja, also diese Zerlegung einer periodischen Zeitfunktion in unendlich viele sinusförmige Zeitfunktionen mit jeweils einem Vielfachen der Grundfrequenz ist eine orthogonale Zerlegung - ein lustiger Name dafür, dass Sinusfunktionen unterschiedlicher Frequenz gemeinsam keine Wirkleistung transportieren können. Solange die angelegte Spannung am Dimmer also sinusförmig mit Grundfrequenz ist, wird die Wirkleistung nur durch Anteil des Stromes mit Grundfrequenz aufgebracht. Alle anderen Frequenzanteile des Stromes (die Oberschwingungen oder, pfui, Oberwellen) erhöhen den Effektivwert des Stromes, erhöhen also die Scheinleistung und belasten das System, ohne zur Wirkleistung beizutragen, bewirken also eine Erhöhung der Blindleistung, und weil sie die Sinusform des Stromes verzerren, heißt dieser Anteil der Blindleistung Verzerrungsblindleistung.

Bei der Phasenanschnittsteuerung gibt es aber nicht nur Verzerrungsblindleistung, sondern auch Verschiebungsblindleistung, weil der Grundschwingungsanteil des Stromes zeitlich etwas nach hinten verschoben ist (Bilder würden helten, kann sich aber jeder mal Zuhause aufmalen). Induktives Verhalten, sozusagen, obwohl keine Induktivität im Spiel ist! Mind blowing, ich weiß. An der Tafel kann ich noch zeigen, dass man die Blindleistung Q=√(S²-P²) wie die Scheinleistung weiter geometrisch zerlegen kann, indem man Wirkleistung und Verschiebungsblindleistung in Tafelebene darstellt, und Verzerrungsblindleistung senkrecht dazu. Dann ragt auch die Scheinleistung aus der Tafelebene heraus - mit genügend langen Kreidestücken bekomme ich das hin.

In Drehstromsystemen gibt es aber noch eine weitere Form der Blindleistung, nämlich die Unsymmetrieblindleistung, die immer dann auftritt, wenn die drei Phasen des Drehstromsystems ungleichmäßig belastet sind, z.B. indem man einen Widerstand nur zwischen zwei Phasen anschließt. Dann fließt natürlich auch nur in diesen beiden Phasen Strom, aber die Spannung der dritten Phase belastet trotzdem das System und erhöht den Effektivwert der Spannung und damit die Scheinleistung, obwohl sie für die Wirkleistungsbereitstellung gar nicht gebraucht wird. Um das im Hörsaal an der Tafel darzustellen, bräuchte ich dann eine Achse senkrecht zur Realität. Aber das ist meistens kein Problem, weil die Hörerinnen und Hörer bis dahin eingeschlafen oder gegangen sind.

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