Mittwoch, 22. Februar 2017
Technik
An der Blindleistung scheiden sich die Energiesystemtechniker von den Volkswirten, lautet eine gängige Energiewirtschaftler-Beschimpfung, die ich mir auch schon ab und zu zueigen gemacht habe. Aber selbst bei den Energiesystemtechnikern gibt es immer wieder und immer große Verwirrung, wenn es um das Vorzeichen von Blindleistung geht, und welches Vorzeichen induktive oder kapazitive Blindleistung denn nun hat. Dabei ist die Bezeichnung "induktive/kapazitive Blindleistung" genau so wenig hilfreich wie "resitive/generatorische Wirkleistung".

Blindleistung Q gibt es immer dann, wenn sich die Wirkleistung P (der Mittelwert des Produktes der Momentanwerte von Strömen und Spannungen) von der Scheinleistung S (das Produkt der Effektivwerte der Ströme und Spannungen) unterscheidet. Die Blindleistung ist dann das, was von der Wirkleistung auf die Scheinleistung "fehlt", wobei der fehlende Teil nicht rein additiv ermittelt wird (Q=S-P, gaaaanz falsch!), sondern geometrisch als senkrecht auf der Wirkleistung stehende Größe (Q=√(S²-P²), so ist es richtig) bestimmt wird.

Und da geht das Dilemma nun los: Wenn Wirkleistung und Blindleistung "senkrecht aufeinander stehen", dann können sie das natürlich "linksrum" oder "rechtsrum" tun. Mit anderen Worten: Die oben stehende Gleichung ergibt nur den Betrag der Blindleistung, aber das Vorzeichen lässt sich daraus nicht ableiten. Dabei ist das Vorzeichen der Blindleistung eindeutig festgelegt; es ergibt sich z.B. aus der "eigentlichen" Bestimmungsgleichung der komplexen Scheinleistung für alle Wechselstromsysteme (auch Drehstromsysteme) mit S=P+jQ, wobei S als S=U×I* definiert ist. Genausogut hätte man S=UI definieren können, hat man aber nicht gemacht, der Zug ist abgefahren, fertig aus. Jedenfalls ist durch diese Definition das Vorzeichen der Blindleistung festgelegt, und zwar so, dass die Blindleistungsaufnahme (also gezählt im Verbraucherzählpfeilsystem) einer Induktivität positiv ist und die einer Kapazität negativ.

Kurz gesagt: Induktivitäten sind nach dieser Vorzeichenfestlegung Blindleistungsverbraucher, während Kapazitäten Blindleistungserzeuger sind. Über das Wesen der Blindleistung, ihre "Entstehung" schreibe ich dann ein anderes Mal. An dieser Stelle bleibt zunächst erst mal festzuhalten, dass Bereitstellung von Blindleistung ("Blindleistungserzeugung") mit dieser Vorzeichenfestlegung bereits erledigt ist: Kapazitäten (oder übererregte Synchrongeneratoren) erzeugen Blindleistung, Induktivitäten (oder untererregte Synchrongeneratoren, oder Asynchronmaschinen) verbrauchen Blindleistung.

Damit muss ich aber immer noch meine steile These, dass "Breitstellung induktiver/kapazitiver Blindleistung" Quatsch ist, belegen. Und zwar: Was damit gemeint ist (jedenfalls hoffe ich, dass die vielen Autoren, die diese Begriffe so verwenden, das so meinen, sonst haben sie gar nix verstanden), ist, dass Kapazitäten induktive Blindleistung bereitstellen (also Blindleistung, die von Induktivitäten oder Asynchronmaschinen "gebraucht" wird). Genausogut würde es aber ausreichen zu sagen, dass Kapazitäten Blindleistung bereitstellen, ohne den Zusatz "induktiv". Denn dieser Zusatz impliziert, dass es auch kapazitive Blindleistung gibt (also Blindleistung, die von Kapazitäten "gebraucht" wird), und die demzufolge von Induktivitäten bereitgestellt wird. Sprich: Induktive Blindleistung ist eigentlich (TM) das gleiche wie "nur" Blindleistung, kapazitive Blindleistung hat genau das andere Vorzeichen und ist negative Blindleistung. Die Bezeichnung "induktive/kapazitive" Blindleistung führt also zu keiner Begriffserweiterung, sondern bietet lediglich unnötiges Potential zur Vorzeichenverwirrung.

Mit der gleichen Argumentation könnte man auch sagen, dass Generatoren (speisen Wirkleistung in das System ein) als Bereitsteller von resistiver Wirkleistung bezeichnet werden sollten, und ohmsche Widerstände (verbrauchen Wirkleistung) als Verbraucher von resistiver Wirkleistung gelten sollten. Das klingt noch einigermaßen vernünftig, "Wirkleistung" und "resistive Wirkleistung" sind dann ähnlich gleichbedeutend wie "Blindleistung" und "induktive Blindleistung". Bloß könnte man ja dann auch anfangen, ohmsche Widerstände als Erzeuger generatorischer Wirkleistung zu bezeichnen, und Generatoren als Verbraucher generatorischer Wirkleistung.

Und das ist eben Quatsch, genau wie "Bereitstellung induktiver/kapazitiver Blindleistung".

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